Bevor wir ins Detail gehen möchte ich zunächst einmal klarstellen, dass Wut an sich nichts „Schlechtes“ ist. Es gibt keinen Menschen auf der Erde, der nicht von Zeit zu Zeit das Gefühl der Wut erlebt. Es ist ein ganz normaler, sogar notwendiger Teil des gesamten Spektrums menschlicher Emotionen.
Dennoch kämpfen wir oft mit Gedanken, die uns einreden, dass es nicht gut sei, Wut zu empfinden. Das kann soweit gehen, dass wir meinen, irgendetwas stimme nicht mit uns, wenn wir wütend sind. Dieser innere Kampf kann dann oft anstrengender sein als die Wutgefühle selbst!
Wahr ist allerdings auch, dass für einige von uns Wut verzehrend wirkt. Wutgefühle werden besonders dann problematisch, wenn die Folgen unserer Wut – die Verhaltensweisen, die die Wut antreibt – so zerstörerisch werden, dass sie unser Leben und das Leben der Menschen um uns herum beschädigt. Dann ist es unbedingt notwendig, einen effektiven Weg zur Bewältigung der Wut zu finden.
Warum werden wir wütend?
Wenn man sich umschaut und all den Schaden bedenkt, der im Laufe der Geschichte aufgrund von Wut angerichtet wurde, kann man sich fragen, warum wir uns so entwickelt haben, dass wir diese Emotion überhaupt erleben können? Aus evolutionärer Sicht muss die Wut, damit sie als Teil der menschlichen Existenz überdauert hat, einem bestimmten Zweck dienen.
Und tatsächlich gilt Wut als eine der Eigenschaften, die uns Spezies Mensch einen Vorteil im Kampf ums Überleben verschafft hat. Aus dieser Perspektive können wir sehen, wie Wut nützlich sein kann und eine völlig angemessene emotionale Reaktion auf Situationen ist, die eine echte Bedrohung oder Gefahr darstellen.
Stelle Dir beispielsweise vor, Du wärst einer Deiner sehr frühen Vorfahren, der ein Mitglied eines feindlichen Stammes dabei erwischt, wie dieser Lebensmittel aus dem eigenem Lager stiehlt und damit das Überleben Deiner Sippe in Gefahr bringt. Würdest Du in dieser Situation nicht auch sehr wütend reagieren?
So gesehen macht es Sinn, dass bestimmte riskante Situationen in uns heute eine ähnliche Reaktion hervorrufen. Obwohl die meisten von uns heutzutage nur noch selten mit wirklich lebensbedrohlichen Situationen konfrontiert werden, zeigt dieses Beispiel aber, wie Wut noch immer funktioniert.
In Deiner Wut stecken wichtige Informationen
Das Gefühl der Wut kann als Informationsquelle sehr nützlich sein, weil sie uns vor Augen führt, was uns wichtig ist in unserem Leben. Unsere Wertvorstellungen sind ein Leitfaden für unser Handeln, die uns ein Gefühl von Erfüllung und Sinn im Leben vermitteln, weshalb sie ja auch so wertvoll für uns sind. Wenn wir nun das Gefühl haben, dass unsere Werte verleugnet, umgangen oder angegriffen werden, reagieren wir – manchmal halt in Form von Wut.
Denke an das letzte Mal, als Du wirklich wütend warst. Erlaube es der Erinnerung, sich vor Deinem geistigen Auge aufzubauen und lasse die damit verbundenen Gedanken und Gefühle zu. Halte nun inne und atme ein paar Mal tief durch. Nimm einfach wahr, welche Gedanken und Gefühle präsent sind, und widerstehe dem Drang, sie zu bewerten.
Frage Dich: Welche meiner Werte waren in diesem Moment bedroht? Welchen meiner Werte hat mein Ärger zu verteidigen versucht? Handelt es sich vielleicht um einen Wert, der mit Gerechtigkeit zu tun hat? Oder war es ein Wert bezüglich Freiheit, Vertrauen oder Respekt?
Wenn Du Dir diese Fragen stellst, kannst Du erkennen, dass in Deiner Wut interessante Informationen stecken, die Du nutzen kannst, um bewusste Entscheidungen zu treffen und wirksame Maßnahmen zu ergreifen.
Wann Wut zum Problem wird
Manchmal reagieren wir jedoch auf Gedanken und Gefühle der Wut auf eine besonders starre und wenig hilfreiche Weise: Wir kämpfen entweder gegen sie an oder schalten auf Autopilot und folgen blind unserem Drang, ‘uns Luft zu verschaffen’.
Dann kann ganz normale Wut eine problematische Wucht erzeugen. Wir fangen beispielsweise an, uns von den Menschen und Dingen zu isolieren, die uns am wichtigsten sind, und fügen damit uns selbst und anderen enormen Schaden zu.
Ein neuer Ansatz für den Umgang mit Wut
Ein Grund, warum es so für uns schwierig sein kann, effektiv auf Wut zu reagieren, ist, dass sie so mächtig zu sein scheint und wir deshalb schnell die Kontrolle über unser Handeln verlieren. Wenn wir wütend sind, kommt es uns oftmals so vor, als ob wir plötzlich von einer Flut innerer Erlebnisse überrollt werden, die uns unweigerlich zu einem bestimmten Wutverhalten führt.
Um diesem Kontrollverlust zuvor zu kommen, ist es hilfreich, den gesamten Prozess ein wenig zu verlangsamen; ihn sogar mit Neugierde zu begegnen, um genau zu erfahren, was in diesen Momenten wirklich vor sich geht und so die Kontrolle über unsere Reaktionen zu behalten.
Jede Wut-Episode wird einen oder mehrere der folgenden fünf Punkte beinhalten – je effektiver Du auf jeden Schritt dieses Prozesses reagierst, desto wahrscheinlicher ist es, dass Du in eine Art und Weise handelst, die Deinen eigentlichen Werten und Zielen entspricht.
1. Auslöser
Der Auslöser für Deine Wut könnte entweder ein Ereignis sein, das in Deiner Umgebung passiert – z.B. jemand tut oder sagt etwas, was Dir gegen den Strich geht – oder es könnte etwas in Dir sein, wie z.B. ein zufälliger Gedanke, der plötzlich in Deinem Kopf auftaucht.
Es ist möglich, dass das auslösende Ereignis etwas Wichtiges ist, mit dem Du Dich tatsächlich beschäftigen musst – vielleicht etwas, das eine echte Bedrohung für Dich oder einer Dir wichtigen Person darstellt. Deshalb ist es in der Tat wichtig, neugierig zu sein und herauszufinden, was der Auslöser ist.
Allerdings ist es schwierig, einer Situation mit klarem Verstand zu begegnen, wenn Du Dich zu sehr in Deinen Wutgedanken und -gefühlen verfängst.
2. Wutgedanken
Diese Art von Gedanken haben oft eine besondere Qualität, denn sie neigen dazu, urteilend zu sein, also voller schwarz-weiß Bewertungen: Etwas ist entweder richtig oder falsch, gut oder schlecht, gerecht oder ungerecht.
Interessant ist auch die Tatsache, dass Wutgedanken oft eine ‚Opfer-Qualität‘ haben. Wir selbst sehen uns primär als das Opfer und machen andere verantwortlich für unsere Situation.
Infolgedessen kann es auch eine Menge Schuldzuweisungen geben und in unserem Kopf wird nicht selten ein Katastrophenszenario heraufbeschworen, was nichts mit mehr mit der Realität zu tun hat.
Allerdings müssen wir uns immer vor Augen halten, dass Wutgedanken absolut normal sind. Entscheidend ist, wie wir mit den Gedanken umgehen. Nur wenn wir zu sehr mit den Gedanken verschmelzen, erleben wir in der Regel starke Wutgefühle.
3. Wutgefühle
Obwohl die Art und Weise, wie wir unsere Wut fühlen – wie intensiv sie ist und wie schnell sie sich ausbreitet – sehr individuell ist, gibt es bei den physischen Anzeichen Gemeinsamkeiten: ein schneller Herzschlag, eine schnelle und flache Brustatmung, Muskelsanpannung, Hitzegefühl und Erröten und vielleicht sogar Zittern.
Auch hier gilt, dass diese körperlichen Anzeichen zu 100 % normal sind, denn es handelt sich dabei um die instinktive ‚Kampf-oder-Flucht‘-Reaktion unseres Körpers, die uns darauf vorbereitet, mit einer Bedrohung umzugehen.
Wenn wir uns jedoch in diesen Gefühlen verfangen, können sie überwältigend sein und zu stärkeren Wutausbrüchen führen.
4. Wutausbrüche
Wenn wir auf einer Wutwelle reiten, kann es sich so anfühlen, als würde sie nie enden, wenn wir nicht sofort etwas dagegen unternehmen. Das Gefühl ist so intensiv und unangenehm, dass der Wunsch, nachzugeben, außerordentlich stark wird.
Sobald wir uns auf einige der Gedanken einlassen, die diesen Prozess oft begleiten und anheizen – Gedanken wie „Ich halte das nicht aus“ oder „Ich fühle mich, als würde ich explodieren“ – können wir uns dabei ertappen, wie wir fast unbewusst unsere Erinnerungen durchsuchen, um Wegen zu finden, wie wir dieses unangenehme Gefühl in der Vergangenheit schon einmal erfolgreich losgeworden sind. Wir tun dies, um auf ‘bereits erprobtes’ Wutverhalten zurückgreifen zu können – auch wenn die Folgen zerstörerisch waren.
5. Verhaltensweisen bei Wut
Es kommt der Moment, in dem wir dem Drang zum Handeln nachgeben und dem Ärger, der sich in uns aufgestaut hat, erlauben, auszubrechen. Manchmal geschieht dies in Form einer regelrechten Wut-Explosion mit Schreien, Türen zuschlagen, vielleicht sogar Gewaltausbrüchen.
Es kann sich aber auch subtiler äußern, wie z.B. in verletzenden Worten, Beschimpfungen, verächtlichem Schweigen, Schmollen oder emotionalem Rückzug.
Und manchmal gleicht das Wutverhalten eher einer Implosion, die nur im Innern abläuft: Wir beißen die Zähne zusammen und versuchen, die Wut ‘herunter zu schlucken’. Vielleicht lassen die Gefühle tatsächlich nach und die unliebsamen Gedanken werden weniger. In Wahrheit ist die heiße Wut allerdings nur vorübergehend auf Eis gelegt worden, bereit, zu einem späteren Zeitpunkt erneut zu explodieren.
Dieser gesamte Prozess läuft meist so schnell ab, so dass wir meinen, es gäbe nur den direkten Wechsel vom Auslöser (Phase 1) zur Reaktion, also wie wir uns verhalten (Phase 5). In Wirklichkeit durchleben wir allerdings in der Regel alle Etappen des Prozesses.
Und genau hier liegt auch der Schlüssel zu einem effektiveren Umgang mit dem Wutgeschehen: Wir können den Prozess verlangsamen, um damit die Kontrolle über unsere Reaktion zu behalten.
Übung: Eine Wut-Episode aufschlüsseln
Nimm Dir einen Moment Zeit und denke an einen kürzlichen Anlass, bei dem Du wirklich wütend wurdest. Schließe die Augen und stelle Dir die Szene von Anfang bis Ende vor, so dass sie in Deinem Kopf lebendig wird.
Du brauchst sie nicht perfekt in allen dokumentarischen Details wiederzugeben; lass die Erinnerung einfach auf ihre eigene Art und Weise hervortreten. Bleibe einen Moment lang bei der Erinnerung an das, was zu dieser Zeit in Dir vorging. Wenn Du bereit bist, beantworte die folgenden Fragen:
- Was war der Auslöser? Was ist passiert – entweder außerhalb von Dir oder in Deinem Inneren?
- In welche Gedanken hast Du Dich verstrickt? Versuche Dich so gut wie möglich daran zu erinnern, was Dein Verstand Dir sagte und welche Gedanken dominiert haben.
- Welche Gefühle traten bei Dir auf? Versuche, die Gefühle zu beschreiben, und wie sie sich in Deinem Körper angefühlt haben.
- Welchen Drang hast Du verspürt, während Du diese Gedanken und Gefühle erlebt hast? Zu was wollte die Wut Dich anstiften? Notiere Dir alle Dinge, die Du tun oder sagen wolltest, unabhängig davon, ob Du sie tatsächlich getan hast oder nicht.
- Was hast Du am Ende tatsächlich getan? Was war das tatsächliche Ergebnis des Wutanfalls in Bezug auf Dein Verhalten?
Es ist wichtig anzumerken, dass dieser Verlangsamungsprozess nicht bedeutet, dass Du versuchst, Deine Gedanken und Gefühle im Zusammenhang mit der Wut zu kontrollieren; so sehr wir das vielleicht auch wollen, wir können weder unsere Gedanken noch unsere Gefühle effektiv kontrollieren.
Bei diesem Prozess geht es vielmehr darum, Dich mit dem vertraut zu machen, was in Dir vorgeht, und Dich Deinen inneren Erfahrungen zu öffnen, auch wenn sie herausfordernd sind, wie das bei Wut meist der Fall ist.
Sich der Wut öffnen
Wie wir festgestellt haben, ist Wut mehr als nur ein „Gefühl“ – sie ist ein komplexes Zusammenspiel von Gefühlen, Gedanken, Antrieben und – wenn wir es nicht schaffen, sie effektiv zu bewältigen – von Verhaltensweisen.
Es ist jedoch das Gefühl der Wut – das mächtige Auf und Ab der Emotionen -, das viele von uns am unangenehmsten finden und gegen das wir deshalb ankämpfen.
Das Experimentieren mit verschiedenen Möglichkeiten, mit Wut und den vielfältigen Emotionen, die normalerweise damit einhergehen, umzugehen, kann den feinen Unterschied machen, ob Du im Autopilot-Modus reagierst, was meist zu noch mehr Problemen und Wutausbrüchen führt, oder ob Du bedacht handelst auf eine Weise, die mit Deinen Werten übereinstimmen.
Übung: In die Wut hinein atmen
Es wird immer Zeiten geben, in denen wir uns plötzlich und unvorbereitet inmitten eines heißen Wutausbruchs wiederfinden. Der natürliche Instinkt in solchen Momenten ist, sich einfach von seinen Gefühlen mitreißen zu lassen.
Um besser vorbereitet zu sein, effektiv mit akuter Wut umzugehen, ist es ungeheuer nützlich, einen Plan zu haben. Wenn Du Dich das nächste Mal in einer solchen Situation befindest, versuche es mit den folgenden fünf Schritten:
- Schritt 1: Lenke Deinen Fokus auf Deinen Atem.
- Schritt 2: Nimm das Gefühl der Wut in Dir wahr, wo in Deinem Körper Du es empfindest und bestätige Dir selbst: „Hier ist ein Gefühl der Wut“.
- Schritt 3: Verbinde die Empfindung mit Deiner Atmung und öffne Dich dabei bewusst für das Gefühl und gib ihm Raum. Atme in und um das Gefühl herum. Stelle Dir dabei einen Raum vor, der sich um das Gefühl herum öffnet.
- Schritt 4: Erweitere aus dieser Position, in der Du Deinen Atem mit dem Wutgefühl verbindest, Deine Wahrnehmung, so als würdest Du einen Scheinwerfer ausweiten. Öffnen Deine Wahrnehmung, um alles andere aufzunehmen, was Du in Dir spüren kannst, und dann alles andere, was Du in diesem Moment sehen, hören, schmecken, berühren und riechen kannst.
- Schritt 5: Reflektiere über das, was Dir wichtig ist, Deine Wertevorstellungen. Denke darüber nach, was für ein Mensch Du am liebsten sein möchtest. Wie möchtest Du Dich aus dieser Perspektive verhalten? Was möchtest Du als nächstes tun?
Verdrängen der Wutgefühle ist keine Lösung
Es ist wichtig, an dieser Stelle klarzustellen, dass es nicht das Ziel dieser Übung ist, das Wutgefühl loszuwerden. Wenn Du Dir das zum Ziel nimmst, wirst Du letztendlich noch mehr mit den damit verbundenen Schmerz zu kämpfen haben.
Es geht einfach darum, Raum für ein Gefühl zu schaffen, das zufällig in diesem Moment präsent ist. Wenn Du Deinen Gefühlen Raum gibst, und seien sie noch so schwierig, ist es weniger wahrscheinlich, dass sie Dich überwältigen. Die Folge ist, dass Du so auch mehr Raum hast, um bewusst, auf Deinen Werten basierte Entscheidungen zu treffen, wie Du Dich verhältst.