„Es ist wichtig, im gegenwärtigen Moment zu leben“ – wie oft hast Du das schon gehört? Vielleicht hast Du auch schon ähnliche Ratschläge gehört wie „Verstrick Dich nicht so sehr in Gedanken an die Vergangenheit oder die Zukunft – lebe im Jetzt!” oder „Alles, was Du hast, ist dieser Moment. Verpasse ihn nicht!”
All diese (überstrapazierten) Sprüche laufen auf die gleiche Grundbotschaft hinaus: Es ist wichtig, im gegenwärtigen Augenblick zu leben. Wenn wir präsent sind und unsere Fähigkeit zur Achtsamkeit einsetzen, macht uns das glücklicher. Sie hilft uns, effektiver mit Schmerzen umzugehen, unseren Stress und seine Auswirkungen auf unsere Gesundheit zu reduzieren und unsere Fähigkeit zu verbessern, mit negativen Emotionen wie Angst und Wut umzugehen. Abraham Maslow fasste es mit den Worten zusammen: „Die Fähigkeit, im gegenwärtigen Augenblick zu sein, ist eine wichtige Komponente des geistigen Wohlbefindens.“
OK, wir haben es verstanden. Aber haben wir das wirklich? Achtsamkeit ist in den letzten Jahren zu einem Schlagwort geworden, und viele denken, dass es sich dabei eher um eine Modeerscheinung oder einen trendigen Lifestyle-Tipp handelt. Doch Achtsamkeit und die Fähigkeit, im gegenwärtigen Moment verweilen zu können, ist viel mehr; es ist sogar unerlässlich, um unseren Weg in dieser sich immer schneller verändernden Welt zu finden.
Warum und wie das geht, möchte ich in diesem Artikel genauer erklären.
Müssen wir meditieren, um achtsamer zu werden?
Im gegenwärtigen Moment oder im „Hier und Jetzt“ zu sein, bedeutet, dass wir uns bewusst sind, was in diesem Moment geschieht und dass wir bemerken, wenn wir abgelenkt werden, um unser Bewusstsein wieder in das Hier und Jetzt zurückbringen zu können.
Obwohl die Achtsamkeitsmeditation eine hilfreiche Methode zur Entwicklung dieser Fähigkeit ist, ist es wichtiger, Achtsamkeit im täglichen Leben mit Hilfe verschiedener einfacher Techniken flexibel anzuwenden. Das ist der eigentliche Prozess der Achtsamkeit und die beste Methode, um präsenter zu werden.
Man muss also nicht jeden Tag mindestens eine halbe Stunde im Schneidersitz meditieren oder gar zu weit entfernten Retreats nach Bali reisen, um achtsamer zu werden und die Vorteile zu genießen. Achtsamkeit und das Leben im gegenwärtigen Augenblick ist uns viel vertrauter, als wir oft denken – was uns zu der Frage führt: „Warum kultivieren wir sie dann nicht ständig?
Achtsamkeit ist kein Zustand, sondern eine Fähigkeit
Ich glaube, viele Menschen scheitern daran, ihre Achtsamkeit öfters zu kultivieren, weil sie denken, dass es dabei darum geht, einen bestimmten geistigen Zustand zu erreichen, anstatt um eine Fähigkeit, die man langsam entwickelt. Das Ziel der Achtsamkeit besteht nicht darin, unseren Geist zu beruhigen und unsere Gedanken abzuschalten.
Achtsamkeit ist vielmehr der Akt des Bemerkens, dass sich der Verstand in Grübeln, Sorgen oder andere ablenkende Gedankengänge verfangen hat, und dann die bewusste Entscheidung, unser Bewusstsein wieder auf den gegenwärtigen Moment zu richten. Jedes Mal, wenn wir dies tun, stärken wir unseren „Achtsamkeitsmuskel“.
Das bedeutet auch, dass Achtsamkeit nicht irgendeine magische Fähigkeit ist, die einige besitzen und andere nicht. Sie ist eine Fähigkeit, die wir alle in uns haben; nur greifen die meisten von uns nicht so oft bewusst darauf zu, weshalb unser Achtsamkeitsmuskel meist nicht besonders stark ist.
Wir sind (un)glücklicherweise keine Zebras
Kennst Du das sehr lesenswerte Buch Warum Zebras keine Migräne kriegen. Wie Stress den Menschen krank macht von Robert Sapolsky? In diesem Buch erklärt Sapolsky, warum Zebras Experten darin sind, im gegenwärtigen Augenblick zu bleiben. Zebras können von einem Zustand extremer Bedrängnis, z.B. nachdem sie von einem Raubtier gejagt wurden, in einen relativ ruhigen und entspannten Zustand übergehen, sobald sie einer Gefahrenzone entkommen sind. Wie ist das möglich?
Die Antwort ist, dass Zebras nicht mit einem denkenden Verstand ausgestattet sind, der sie bereitwillig aus dem gegenwärtigen Moment herausholt. Das Zebra wird nicht von einem Trauma geplagt, nachdem es entkommen ist, und es fühlt sich auch nicht von Schuldgefühlen überwältigt, weil es überlebt hat, während ein anderes Zebra aus der Herde vom Löwen gefasst wurde.
Für uns Menschen ist das anders; wir hängen an unseren schwierigen und negativen Erfahrungen und Gedanken. Das hat sich natürlich für uns im Laufe der Evolution als äußerst nützlich erwiesen, weil es uns hilft, aus vergangenen Erfahrungen zu lernen und für die Zukunft planen zu können.
Aber es hat auch seinen Preis. Der Preis ist, dass die Vergangenheit und die Zukunft für uns so verführerisch sind, dass es für uns unglaublich leicht ist, die sich daran orientierenden Gedanken und Gefühle als Wahrheiten zu interpretieren. Wir grübeln über vergangene Misserfolge nach, an denen wir nichts mehr ändern können, oder machen uns Sorgen über zukünftige Ereignisse, die uns noch nicht widerfahren sind. Infolgedessen ist unsere Fähigkeit, auf Situationen zu reagieren, die unmittelbar vor uns liegen, stark eingeschränkt.
Es ist diese fehlende Flexibilität, die dazu führt, dass wir neue Herausforderungen möglicherweise nicht annehmen: “Ich haben das schon in der Vergangenheit versucht und nicht geschafft; warum sollte es dann dieses Male funktionieren?”
Ein Risiko des Scheiterns besteht natürlich immer, aber Handlungen, die nur auf den Gedanken über unsere Vergangenheit oder Zukunft basieren, sind meist ziemlich einschränkend und führen zu sich wiederholenden und wenig hilfreichen Verhaltenszyklen.
Achtsamkeit hilft uns, geistig flexibler zu werden
Es ist also wirklich unsere geistige Flexibilität, die wir stärken, wenn wir anfangen, achtsamer zu werden. Geistige Flexibilität ist eine Schlüsselfähigkeit, die uns in einer herausfordernden Situation reaktionsfähig macht. Sie hilft uns, automatische Reaktionsmuster zu reduzieren und in einem bestimmten Moment das Bewusstsein für unsere inneren Erfahrungen zu fördern, also für unsere Gedanken, Gefühle und Erinnerungen. Wir können einen Schritt zurücktreten und auf unsere innere Erfahrung schauen, anstatt unreflektiert aus ihr heraus zu handeln.
Zusätzlich hilft Achtsamkeit uns dabei, die Fähigkeit zu entwickeln, anzuerkennen, wie wertvoll ein bestimmter Augenblick ist. Sie erlaubt uns, das einzige verfügbare Zeitfenster zu nutzen, um Veränderungen herbeizuführen – den gegenwärtigen Moment.
Denn die ausgefeilste Strategie oder die beste Absicht ist vergeblich, wenn wir nicht in der Lage sind, den gegenwärtigen Augenblick zu erfassen; zu erkennen, dass dieser Augenblick genau jetzt eine Gelegenheit ist, eine neue Strategie anzuwenden oder unsere Absicht zu verwirklichen.
Mit anderen Worten, ohne diese geistige Flexibilität ist es schwierig, sich zu verändern oder sich erfolgreich an die ständigen Veränderungen in unserer modernen Welt anpassen zu können.
Es geht nicht um langwierige Meditation, sondern um Innehalten, Wahrnehmen und Akzeptieren
Schauen wir uns ein praktisches Beispiel an – unsere Verhalten bei der Arbeit. Arbeit wird immer mehr zum Synonym für Schnelligkeit, Produktivität und Dynamik – ganz gleich, ob Du in einem großen Unternehmen oder als Kleinunternehmer von zu Hause aus arbeitest.
Deine Fähigkeit, den gegenwärtigen Moment kontaktieren zu können, bedeutet nicht gleich, dass Du Deine Arbeit verlangsamst oder einstellst. Es handelt sich dabei eher um ein bewusstes Innehalten und Nachdenken, das Dir hilft, mit der unerbittlichen Vorwärtsenergie, die ein Job heutzutage mit sich bringt, besser umgehen zu können. Du entwickelst die Fähigkeit, sowohl aktiv zu sein als Dich auch selbst in Aktion zu betrachten.
So kannst Du feststellen, ob Dein gegenwärtiges Verhalten Dir nützt und Dich Deinen Zielen und Werten näher bringt, oder ob es sich um eine alte gewohnheitsmässige Reaktion handelt, die automatisch einsetzte und gegen Deine Ziele läuft.
Kurz gesagt, signifikante Veränderung sind nur schwer möglich, wenn Du Dir des gegenwärtigen Moments nicht ausreichend bewusst bist, in dem Du erkennst, “hier kommt der Auslöser; dies ist einer dieser Momente, in denen ich auf der Hut sein muss; jetzt ist es an der Zeit, mein neues Verhalten zu üben.“
Bezogen auf Deine mentale Flexibilität bedeutet dies, dass sich Dein Fokus erweitert und sich damit neue Wege für einen wirksamen Umgang mit Deinen Herausforderungen eröffnen. Während Du vorher versucht hast, alles zu vermeiden, was Du als störend oder bedrohlich empfunden hast, kannst Du Dich jetzt Deinen Herausforderungen stellen und vorankommen.
Fazit
Wenn Du Deine Fähigkeit zu einer flexibleren Interaktion mit dem gegenwärtigen Augenblick kultivierst, erhältst Du die Kraft und das Selbstvertrauen, Deinen Herausforderungen direkt begegnen zu können. Als Folge wirst Du Dir stärker Deiner wahren Ressourcen und Handlungsoptionen bewusst.
Bei der Kultivierung der Achtsamkeit und des gegenwärtigen Augenblicks geht es also nicht um langwierige Meditationspraktiken (obwohl diese sehr hilfreich sein können). Es geht vielmehr darum, Deine Fähigkeit zu entwickeln, innezuhalten, Deine Gedanken und Gefühle bewusst wahrzunehmen und diese zu akzeptieren, um dann die effektivste Handlungsoption auszuwählen.
Wenn Du also das nächste Mal vor einer herausfordernden Situation stehst, versuche diese einfachen drei Schritte zu gehen:
- Halten inne, um eine achtsame Pause einzulegen und Deine gegenwärtigen Gedanken und Gefühle wahrzunehmen.
- Akzeptiere Deine Gedanken und Gefühle, indem Du ein paar Mal tief in den Bauch ein- und ausatmest.
- Wähle die Handlungsoption aus, die Dich Deinen wahren Zielen und Werten näher bringt.
Viel Glück!